Rumäniens Unvermögen, einen tödlichen Masernausbruch zu verhindern, ist eine Geschichte der Selbstgefälligkeit, Stümperei und Diskriminierung. Und ein abschreckendes Beispiel für Europa.
Von Octavian Coman, Temeswar/Bukarest/Charleroi/Rom
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Karla wurde nie gegen Masern geimpft. Ihr Gesundheitszustand erlaubte es nicht. Sie kam mit einem angeborenen Speiseröhrenverschluss auf die Welt und verbrachte ihre frühe Kindheit immer wieder im Spital - häufig mit Lungenentzündung. Während eines Routineaufenthalts im Louis-Ţurcanu-Kinderkrankenhaus in Temeswar im Westen Rumäniens lag das Kind im selben Stockwerk wie ein an Masern erkranktes Mädchen. Binnen Kurzem bekam Karla Fieber.
Sie wurde in das Krankenhaus für Infektionskrankheiten und Pneumologie Dr. Victor Babeş auf der anderen Seite der Stadt verlegt. Dort gab es so viele Masernpatienten, dass Karla zunächst auf einer Erwachsenenstation untergebracht werden musste. Ihr Zustand verschlechterte sich, das Fieber stieg auf 42 Grad Celsius.
In der Nacht des 18. Dezembers 2016 begann sie so heftig zu jammern, wie es ihre Mutter Florentina Marcusan noch nie gehört hatte. Sie bekam einen Ausschlag im Gesicht und auf der Brust. Kurz nach 8 Uhr früh, als eine Krankenschwester Karla eine Injektion verabreichte, begann der Kopf des Mädchens zu zucken. Während die Krankenschwester Hilfe holte, hielt Marcusan ihr Kind in den Armen. "Als ich sah, dass sie nicht mehr reagierte, geriet ich in Panik und legte sie hin, weil ich wusste, dass sie gestorben war - in meinen Armen", erinnerte sie sich.
Die Ärzte schickten die verzweifelte Mutter aus der Station und versuchten, das Mädchen wiederzubeleben. Kettenrauchend wartete sie in der Kälte vor dem Krankenhaus, Karlas Teddybär fest umklammert. Fünfundvierzig Minuten später, um 9.10 Uhr, wurde Karla Iasmina Georgiana Popa für tot erklärt. Sie war ein Jahr und drei Monate alt.
Es ist die tödlichste Masern-Epidemie seit Einführung der Immunisierung 2005
Das kleine Mädchen war eines der ersten zehn Opfer eines Masernausbruchs, der in Rumänien bis Ende November 36 Menschenleben - vorwiegend Babys - gefordert hatte. Seit Auftreten der ersten Fälle im vergangenen Januar hatten sich ungefähr 10 000 Personen infiziert.
Es handelt sich um die tödlichste Epidemie in Rumänien seit Einführung der aus zwei Teilimpfungen bestehenden Immunisierung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) im Jahr 2005. Sogar in Belgien, Spanien und Irland wurden Fälle von Masern bekannt, die man mit Rumänien in Verbindung brachte, auch wenn diese Ausbrüche im Vergleich zur Epidemie, die Karla das Leben kostete, unbedeutend waren.
Die Mutter des Mädchens macht die Krankenhäuser, in denen Karla behandelt wurde, dafür verantwortlich, nicht mehr getan zu haben, um das Kind zu schützen. "Ich verspüre solchen Hass", meinte Marcusan sechs Monate nach Karlas Tod in ihrem Heimatdorf Dubesti, etwa 90 Kilometer von Temeswar entfernt. "Ich vertraue niemandem mehr."
Mangelndes Vertrauen ist das Kernproblem der Masernkrise in Rumänien, wo die Wahrnehmung mangelhafter Zustände und Misswirtschaft den Glauben an das Gesundheitswesen untergräbt. Trotz der Möglichkeit einer Gratis-MMR-Impfung beim Hausarzt, die den Kindern in zwei Dosen im Abstand von mehreren Jahren verabreicht wird, sind die Durchimpfungsraten stark rückläufig.
Die Impfrate ist in den vergangenen zehn Jahren gesunken
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO und des rumänischen Gesundheitsministeriums ist die Durchimpfungsrate für die erste Teilimpfung im Laufe der vergangenen zehn Jahre um 11 Prozent und für die zweite Teilimpfung um 29 Prozent gesunken.
Viele schieben die Schuld an der Epidemie vorschnell einer lautstarken Antiimpfbewegung zu, Mediziner und Experten für öffentliche Gesundheit zeigen jedoch mit dem Finger auf die rumänischen Behörden und sprechen von einem systematischen Versagen, eine vorhersehbare Krise abzuwenden.
Von Mangelhaftigkeiten im Impfstoffmanagement bis zur Unfähigkeit, rechtzeitig Alarm zu schlagen, skizzieren sie ein Bild bürokratischer Stümperei und Selbstgefälligkeit - mit tödlichen Folgen. "Das Impfprogramm kann nicht besser sein als das ihm zugrundeliegende Gesundheitssystem", meinte Eduard Petrescu, Koordinator beim Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) in Rumänien.
Andere sehen darin ein abschreckendes Beispiel dafür, was passiert, wenn Behörden es versäumen, marginalisierte Bevölkerungsgruppen - in diesem Fall die Minderheit der Roma - in das nationale Gesundheitssystem zu integrieren. "Wenn nicht kontinuierlich, systematisch und gewissenhaft geimpft wird, füllt das Virus sofort die Lücke", erklärte Adriana Pistol, Direktorin des Zentrums für die Überwachung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten in Rumänien, das zum Nationalen Institut für Öffentliche Gesundheit des Gesundheitsministeriums gehört.
Das Virus verbreitete sich wahrscheinlich von Rumänien aus in der EU
Die meisten Menschen, die in Braşov mit Masern ins Krankenhaus eingeliefert wurden, stammten aus einer Roma-Gemeinde im 20Kilometer entfernten Dorf Zizin, wo laut Schätzungen des dort niedergelassenen Arztes Jan Badan die Hälfte der in den vergangenen Jahren zur Welt gekommenen Kinder nicht geimpft wurde.
Dreckige Straßen und baufällige Häuser mit zugemüllten Vorgärten prägen den Dorfrand von Zizin. Manche Bewohner von Zizin hatten ihre eigenen Theorien, was den Ursprung der Masern anging. "Der viele Müll ist an allem schuld", meinte Constantin Otelas, ein tätowierter ortsansässiger Gemeinderat, der sich nicht sicher war, ob irgendeines seiner neun Kinder geimpft worden war.
Ein junger Mann glaubte, dass das Virus "aus einem Flugzeug geworfen worden war". Marcela Taranu, 20, erzählte, dass ihre ungeimpfte sechsjährige Tochter vor zwei Wochen an Masern erkrankt war. Sie hatte versucht, das Mädchen vor der Masernkrise impfen zu lassen, man hatte ihr aber gesagt, dass keine Impfstoffe verfügbar wären. Sie habe wenig Vertrauen in die Impfkampagne der Behörden, meinte sie vor ihrem kleinen einzimmrigen Holzhaus. "Ich verstehe das nicht", sagte sie. "Manche haben sich impfen lassen, aber die Kinder hier aus dem 'Zigeunerland' haben die Krankheit trotzdem bekommen."
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Nach Ansicht der Gesundheitsexperten konnte sich das Virus aufgrund der Unfähigkeit Rumäniens, den Ausbruch abzuwenden, auch im Ausland verbreiten, aber nur dort, wo es auf fruchtbaren Boden stieß. Ungarische Behörden befürchteten, dass sich die Masern Anfang 2017 über die rumänische Grenze hinaus verbreitet haben könnten, als im Südosten Ungarns 29 Fälle gemeldet wurden. Der jüngste Ausbruch in Serbien rief ähnliche Bedenken hervor, obwohl die Behörden über Fälle aus dem Kosovo, wo man mit dem größten Masernausbruch seit Ende des Konflikts 1999 zu kämpfen hat, noch beunruhigter sind.
Der Epidemiologe Predrag Kon vom Belgrader Institut für Öffentliche Gesundheit sagte, dass das in Serbien entdeckte Virus zwar den gleichen Genotyp B3 aufwies wie jenes in Rumänien, die Behörden jedoch nicht bestätigen konnten, dass die Fälle von jenseits der Grenze kämen.
104 Masernfälle wurden in neun EU-Ländern entdeckt
Dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten zufolge wurden in den zwölf Monaten bis Februar 2017 in neun EU-Ländern 104 Masernfälle entdeckt, die wahrscheinlich mit Rumänien in Zusammenhang standen: Österreich, die Tschechische Republik, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, Spanien, Großbritannien und Belgien.
"Es reicht ein einziger Fall, um einen erneuten Ausbruch auszulösen, damit das Virus eine Bevölkerungsgruppe befallen kann, die nicht geschützt ist", so Remy Demesteer, ein Spezialist für Infektionskrankheiten am Marie-Curie-Krankenhaus in der belgischen Stadt Charleroi. "Man braucht keine illegalen Migranten, um Krankheiten einzuschleppen. Jeder kann Träger eines Krankheitserregers (Viren oder Bakterien, Anm. d. Red) sein."
Charleroi, eine der größten Städte in der französischsprachigen Region Wallonien im Süden Belgiens, war das Zentrum eines Masernausbruchs, der im Dezember 2016 begann und knapp 300 Menschen betraf. Der Ausbruch wurde auf einen nicht geimpften, in Belgien lebenden Rumänen zurückgeführt. Er habe die Krankheit nach einem Besuch bei Verwandten in Rumänien eingeschleppt, sagte Carole Schirvel, Leiterin des Wallonischen Zentrums für die Überwachung von Infektionskrankheiten.
Das Virus verbreitete sich rasch unter Verwandten, Freunden und Nachbarn. Schirvel zufolge stammten viele der Betroffenen aus in der Region lebenden rumänischen oder serbischen Roma-Gemeinden, die durch das Netz des belgischen Gesundheitssystems gefallen sind, weil sie auf Reisen waren oder ihre Kinder nicht regelmäßig die Schule besuchten.
Da sie nicht bei praktischen Ärzten registriert waren, gingen manche direkt in die Notaufnahme und steckten andere an. In Belgien ist nur die Impfung gegen Kinderlähmung verpflichtend, auch wenn wallonische Kindertagesstätten Eltern dazu anhalten, ihre Kinder auch gegen andere Krankheiten einschließlich Masern impfen zu lassen. "Innerhalb von drei, vier Wochen kam es zur Explosion", so Schirvel.
Masern sind in Belgien so selten, dass manche Ärzte sie nicht erkannten
In 12 Prozent der Fälle war sogar das Gesundheitspersonal betroffen, auch wenn keine Todesfälle zu beklagen waren. Masern waren in Belgien so selten geworden, dass manche Ärzte sie nicht erkannten und die Diagnose spät erfolgte.
Nach Rumänien erlebte Italien Anfang November 2017 den schlimmsten Masernausbruch mit 4794 Fällen - darunter vier Todesopfer. Die Epidemiologin Adriana Pistol nannte es eine Art "Virus-Tausch", bei dem die Masern in Italien ihren Ausgang nahmen und dann in manchen Fällen von Rumänen zurück nach Italien gebracht wurden. Für Giovanni Rezza, Direktor der Abteilung für Infektionskrankheiten am Nationalen Institut für Gesundheit in Rom, war der Ausbruch jedoch ein Problem der Prävention und nicht der Migration.
Die Masern-Durchimpfungsrate in Italien lag laut Gesundheitsministerium 2016 bei etwa 87 Prozent. In der Region Südtirol an der Grenze zu Österreich und der Schweiz betrug sie sogar nur 67 Prozent. Von der Krankheit waren Jugendliche und Erwachsene überproportional betroffen, was Italiens Nationalem Institut für Gesundheit zufolge auf die niedrige Durchimpfung in den Jahren nach Einführung der Impfung in Italien 1976 zurückzuführen sei.
Untersuchungen des Instituts haben auch gezeigt, dass die Bevölkerung der Roma in Italien im Gegensatz zu früheren Ausbrüchen nicht besonders stark betroffen war. Die große Überraschung war das Gesundheitspersonal: Über 300steckten sich mit der Krankheit an.
Eine im März von der Universität La Sapienza in Rom veröffentlichte Studie ergab, dass nur 38 Prozent des medizinischen Personals, das man in und rund um Rom befragte, der Meinung war, eine Masernimpfung sollte für Beschäftigte im Gesundheitswesen verpflichtend sein. Ein Ergebnis, das den Studienleiter Giuseppe La Torre zornig macht. "Wenn man Kinderarzt, Arzt oder Krankenpfleger ist und auf Intensivstationen, Neugeborenen-Intensivstationen, tätig ist, sollte man gegen alles geimpft sein", meinte er.
Als Reaktion auf den Ausbruch führte die Regierung ein neues Gesetz ein, das im Juli vom Parlament verabschiedet wurde und vorschreibt, Kinder vor Eintritt in den Kindergarten oder die Schule gegen zehn Krankheiten zu impfen, inklusive Masern.
In Rumänien ist die Aussicht auf verpflichtende Impfungen nur ein schwacher Trost für Florentina Marcusan, deren Tochter Karla den Masern zum Opfer fiel. Ab und zu besucht sie Karlas Grab bei Nacht mit dem schmerzenden Verlangen, in ihrer Nähe sein zu wollen. Manchmal bete sie darum, einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen.
Sie sagte, sie hätte von den Risiken einer Masernerkrankung erst erfahren, als es schon zu spät war. "Wenn ich es schon nicht gewusst habe, dann sollten zumindest andere Bescheid wissen."
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence, unterstützt von der ERSTE Stiftung und den Open Society Foundations in Kooperation mit dem Balkan Investigative Reporting Network. Übersetzung: Barbara Maya.
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