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Immer wieder werden Flüchtlinge in Deutschland für hohe Vergewaltigungszahlen beschuldigt
Jüngst veröffentlichte Zahlen des bayerischen Innenministeriums befeuerten die Debatte
Nun zeigt eine aufwendige HuffPost-Recherche: Die Wirklichkeit sieht weit weniger dramatisch aus
Es muss ein schreckliches Martyrium gewesen sein: Mitten im Ortskern von Höhenkirchen-Siegertsbrunn bei München sollen zwei Flüchtlinge im Septemberhintereinander ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt haben. In der Folge diskutierten viele Menschen in der Region über angeblich zunehmende Sex-Attacken durch Flüchtlinge.
Nicht nur in der kleinen Ortschaft sind Flüchtlinge und sexuelle Gewalt ein Dauerthema.
Geschürt wurde die Angst durch Horrorzahlen, die vor der Wahl die Runde machten: Bayerns Innenministerium hatte gewarnt, die Zahl der Vergewaltigungen habe im Freistaat drastisch zugenommen.
Die Schlagzeile verbreitete sich rasch - dass die Meldung so nicht haltbar ist, ging im Vorwahl-Getöse der sozialen Medien unter.
Denn wer genauer schaut, was wirklich hinter den Zahlen steckt, merkt das hinter dem Bild des Vergewaltiger-Flüchtlings nicht viel dran ist.
Das Vergewaltigungs-Risiko stieg seit 2011 geringfügig an
Zwar ist die Zahl der bei der Polizei registrierten angezeigten Sexualstraftaten 2016 gestiegen – doch das heißt nicht zwangsläufig, dass auch die tatsächliche Zahl an Übergriffen zugenommen hat.
Ein Anstieg könnte Experten zufolge beispielsweise auch an einer erhöhten gesellschaftlichen Sensibilität für das Thema und einem damit einhergehenden veränderten Anzeigenverhalten liegen.
Eine sogenannte Dunkelfeldstudie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens (KFN) zeigt: Das Risiko für eine Frau im Alter von 16 und 40 Jahren, Opfer sexueller Gewalt zu werden, lag im Jahr 2011 bei 2,4 Prozent.
Derzeit liegt es nach Erkenntnissen des Kriminologen Christian Pfeiffer bei etwa 2,6 Prozent. Zum Vergleich: 1992 war das Risiko, vergewaltigt zu werden, mit 4,7 Prozent jedoch sogar fast doppelt so hoch wie heute.
In den Dunkelfeldstudien wurden Frauen nach ihren Erfahrungen gefragt – sie erfassen deshalb auch Delikte, die nicht angezeigt wurden.
Pfeiffer, der mit Kollegen derzeit der Frage nachgeht, ob Zuwanderer mehr Sexualdelikte begehen als Einheimische, betont: Anders als in Medien kolportiert, lasse sich nicht sagen, dass Flüchtlinge bei den Sexualverbrechen "besonders schlimm auffallen".
Sex-Attacken durch Flüchtlinge insbesondere in deren Unterkünften
Dennoch unterstellen rechte Hetzseiten Flüchtlingen massenhafte Vergewaltigungen. Der Begriff "Rapefugee", eine Mischung der englischen Worte für Flüchtling und Vergewaltiger, fand sogar Einzug bei Wikipedia.
Dabei halten sogar Kritiker der deutschen Flüchtlingspolitik, wie Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), die Darstellungen für übertrieben.
"Die Behauptung, dass Eingewanderte haufenweise Frauen vergewaltigen, ist einfach nur Unsinn", erklärt Wendt. Zwar gebe es eine kleine Minderheit an Zugewanderten, die mit Sexualstraftaten auffällig werden. Das sei "natürlich ein Problem".
Doch die Opfer seien "vor allem die Bewohnerinnen der Flüchtlingsheime". Das sei nicht "weniger schlimm", aber die Gefahrenlage der einheimischen Bevölkerung steige eben - anders als mitunter behauptet - durch diese Fälle nicht an.
Das Risiko, Opfer einer Sexualstraftat zu werden, sei nirgendwo größer als in den Flüchtlingsunterkünften selbst, weiß auch Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden.
So hat allein die Berliner Polizei im vergangenen Jahr 71 Sexualdelikte von Zuwanderern gezählt, die in einem Wohnheim für Geflüchtete begangen wurden.
"Verzerrte Statistik“ - Mehmet wird häufiger angezeigt als Max
Experten raten jedoch zur Vorsicht: Die BKA-Zahlen sagen nichts darüber aus, ob Flüchtlinge tatsächlich mehr Sexualstraftaten begehen.
Unklar bleibt etwa, ob ein Verdächtiger später auch verurteilt wurde, also seine Schuld zweifelsfrei erwiesen wurde. Die Zahlen sind Sicherheitsexperten zufolge stark abhängig von Ermittlungsschwerpunkten und Anzeigeverhalten. Sie sind keineswegs ein Abbild der tatsächlichen Kriminalität im Land.
"Nach den Silvester-Übergriffen von Köln ist die Sensibilität für Sexattacken gestiegen", sagt Rettenberger. Er geht davon aus, "dass seitdem Taten bei der Polizei angezeigt werden, die Frauen vorher gar nicht gemeldet hätten".
Der Deliktanstieg könne demnach statt eines echten Zuwachses "eine Verschiebung aus dem Dunkelfeld ins Licht der Öffentlichkeit sein".
Für Pfeiffer, der viele Jahre Direktor des KFN war, ist jedenfalls klar: "Man kann aufgrund der Polizeistatistik nicht einfach sagen, dass Flüchtlinge mehr Sexualdelikte begehen als Deutsche." Es gebe "viele Verzerrungsfaktoren".
Der wohl Wichtigste: "Fremde werden weit häufiger angezeigt als Einheimische", betont Pfeiffer. Er verweist auf Studien des KFN: Wenn Max ein Sexualdelikt begehe, werde er von Anna zu 18 Prozent angezeigt – ist Mehmet der Täter liege die Wahrscheinlichkeit bei 44 Prozent, also gut zweieinhalbmal so hoch.
"Bei Flüchtlingen dürfte dieser Wert noch viel höher sein", sagt er. In der Kriminalstatistik seien Zuwanderer alleine schon deshalb überrepräsentiert. Rettenberger geht ebenfalls davon aus, "dass Flüchtlinge, weil sie Fremde sind, häufiger angezeigt werden".
"Junge Männer sind überall auf der Welt krimineller"
Zudem sind besonders viele junge Männer als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. "Und diese Altersgruppe ist auch unter den Deutschen – wie wohl in jedem anderen Land – für überproportional viele Straftaten verantwortlich", erläutert Pfeiffer.
So stellte dem Kriminologie-Professor zufolge die Gruppe der 14- bis 30-Jährigen bundesweit im Jahr 2014 gerade einmal 9,3 Prozent der Bevölkerung. Sie war jedoch für mehr als jede zweite Gewaltstraftat (51 Prozent) verantwortlich. Demnach begingen junge Männer bereits vor der Flüchtlingskrise fünfmal so viele Gewaltdelikte wie der Durchschnitts-Bürger.
Bei Sexualdelikten seien die Zahlen ähnlich hoch, weiß der Forscher, der von 2000 bis 2003 für die SPD niedersächsischer Justizminister war.
Hier rächt sich offenbar der erschwerte Familiennachzug. "Wer Frau und Kinder bei sich hat, begeht weniger Straftaten", so Pfeiffer.
Zwar ist es Pfeiffer und Rettenberger zufolge ein Problem, dass viele Flüchtlinge aus Macho-Kulturen kämen. Doch klar ist den Experten zufolge auch: Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen mit einem traditionellen oder gar mittelalterlichen Frauenbild wird nicht gewalttätig.
Pfeiffer gibt zu bedenken: Die große Zahl der Zuwanderer mit Bleibeperspektive wisse genau, dass jede Straftat ihre Chance, "sich hier dauerhaft etwas aufzubauen, zerstören kann". Dies vermindere bei vielen de Bereitschaft, Straftaten zu begehen.
Aus Sicht Rettenbergers machen auch die Lebensumstände manche Flüchtlinge zu Tätern. Denn vielen Asylsuchenden fehlen zunächst in den Erstaufnahme-Einrichtungen die soziale Integration, ein geregelter Tagesablauf und eine Arbeitsstelle. "Unmut und Frustration sind die entscheidenden Quellen für Aggressivität und sexuelle Gewalt", sagt der Kriminalpsychologe.
Die bayerische Mär von der massenhaften Zunahme an Vergewaltigungen
Ein Problem ist Experten zufolge die schlechte Kommunikation vieler Politiker, die glauben mit Zuspitzungen zur Flüchtlingskriminalität punkten zu können.
Selbst Polizeigewerkschafts-Chef Wendt sagt: "Mit Kriminalstatistiken sollte man keinen Wahlkampf machen."
So musste Landesinnenminister Joachim Herrmann die bayerische Vergewaltigungs-Statistik bereits kurz nach deren Vorstellung relativieren. Der CSU-Mann hatte behauptet, bayernweit habe im ersten Halbjahr mit 685 im Vergleich zum Vorjahr 48 Prozent mehr Vergewaltigungen gegeben.
Allerdings handelte es sich, wie das Ministerium später einräumen musste, um eine nicht einfach mit dem Vorjahr vergleichbare Zahl. Denn in der Statistik tauchen nach einer Gesetzesverschärfung seit diesem Jahr anders als noch 2016 nun auch sexuelle Nötigungen auf. Dies sowie ein verändertes Anzeigenverhalten sind nach Ansicht von Fachleuten wesentliche Ursachen für den Anstieg – doch bei der ersten Vorstellung der Zahlen war davon keine Rede.
Doch was kann der Staat gegen die vorhandenen Probleme unternehmen?
Pfeiffer empfiehlt, diejenigen Flüchtlinge, die wie etwa viele Nordafrikaner keine Bleibeperspektive haben, noch deutlich stärker als bislang mit freiwilligen Rückkehrprogrammen zur Ausreise zu bewegen. Wendt präferiert dagegen eine "konsequente Abschiebung von Sexualstraftätern unter den Flüchtlingen".
Diese schadeten ja auch den "tatsächlich Verfolgten“, da das Misstrauen in der Bevölkerung sonst weiter zunehme. Klar ist aber auch: Bei manchen Bewohnern von Höhenkirchen-Siegertsbrunn wird es dauern, bis ihre Angst vergeht.