Christian Lindner hat mit seinem abrupten Abbruch der Sondierungsgespräche Union und Grüne vor den Kopf gestoßen. Der Verdacht liegt nahe, dass er die Jamaika-Regierung nie ernsthaft wollte.
Ein Kommentar von Stefan Kuzmany

Modern sind sie, das muss man ihnen lassen: Wenige Minuten nach dem Rückzug der FDP aus den Jamaika-Sondierungsgesprächen war die schicke Grafik für den Twitter-Account der Liberalen schon fertig, magenta auf gelb stand da der neue Parteislogan: "Lieber nicht regieren als falsch." So eine Texttafel ist schnell gemacht, die Geschwindigkeit ihrer Bereitstellung passt dennoch zur großen Frage dieser Nacht: War der spektakuläre Abgang des Parteichefs Christian Lindnertatsächlich so spontan, wie er wirken sollte? Wollte er überhaupt eine Einigung?
Es ging an diesem letzten langen Jamaika-Abend jedenfalls einiges erstaunlich schnell bei den Liberalen. Schon bevor die Jamaika-Unterhändler überhaupt angefangen hatten, miteinander zu sprechen, preschte Lindner mit der Ankündigung vor, man werde um 18 Uhr fertig zu sein haben. Abgesprochen hatte er diesen Stundenplan offenbar mit keinem der anderen Verhandler. Um 20.30 Uhr tagte man entgegen Lindners Ansage dann aber immer noch, da lud die FDP-Pressestelle für den nächsten Tag zu einer Pressekonferenz mit dem Parteichef ein - wohlgemerkt zu einem Einzeltermin, keiner gemeinsamen Erklärung mit den möglichen Regierungspartnern. Das sah bereits nach Alleingang aus.

Ganz anders präsentierten sich Union und Grüne. Von beiden Seiten wurden den Tag über Kompromissangebote in den besonders umstrittenen Fragen der Migrationspolitik kolportiert, von den Grünen war gar ein "atmender Rahmen" für die Zahl der jährlichen Neuankömmlinge ins Spiel gebracht worden - eine Sprachregelung, die auch aus der CSU-Parteizentrale hätte stammen können. Es half nichts. Berichten zufolge war es dann die FDP, die mit einer überraschenden Schärfe in der Flüchtlingsfrage sogar die CSU irritierte und so einen Kompromiss erschwerte. Als Angela Merkel nach dem Scheitern der Sondierung in der Nacht zum Montag vor die Presse trat, sprach sie von einem "fast historischen Tag". Und obwohl ja tatsächlich nichts passiert ist bis auf die Festschreibung der Tatsache, dass jetzt auch weiterhin nichts weitergehen wird bei der Bildung einer handlungsfähigen Regierung für Deutschland, konnte man kurz danach doch geradezu geschichtsträchtig Unerhörtes hören: Cem Özdemir, leibhaftiger Co-Vorsitzender der Grünen, dankte ausdrücklich Horst Seehofer, dem Chef der tiefschwarzen CSU.
Und nicht nur Özdemir und seine Kollegin Katrin Göring-Eckardt, sondern auch Seehofer und Merkel betonten, eine Einigung sei durchaus möglich gewesen. Ja, sie sei zum Greifen nahe gewesen. Wenn nur nicht die FDP so abrupt abgesprungen wäre, wie - auch das hat man selten gesehen - Gerd Müller (CSU) und Jürgen Trittin(Grüne) es fast gleichlautend in Interviews berichteten.
Vielleicht war es ja genau diese greifbare Nähe eines Kompromisses, der die FDP dann dazu brachte, bei dieser Reise nach Jamaika in letzter Minute nach der Notbremse zu greifen, aus dem Zug zu springen und sich aus dem Staub zu machen. Womöglich hatten die Liberalen ihren Absprung lange geplant. Der Verdacht liegt nahe, allzu groß schien ihr Widerwille von Anfang an.
Lindners gute Ausgangsposition - und wie die SPD dazwischenkam
Dass es der FDP nicht leichtfallen würde, in eine Regierung einzutreten, war spätestens seit der Wahlnacht im September klar. Für eine Partei, die mit 10,7 Prozent gerade eine sehr respektable Wiederauferstehung zu feiern hatte, wirkte Christian Lindner schon da erstaunlich regierungsunwillig. Am liebsten, so schien es, wollte er sich in der Opposition einrichten und von dort aus eine lustlos wiederaufgelegte und schwerfällige GroKo mit flotten Modernisierungsforderungen vor sich hertreiben.
Eine gute Ausgangsposition: Lindner hätte schneidige Ansprachen halten können, und es wäre dabei niemandem groß aufgefallen, dass seine Partei mit Ausnahme seiner Person und Wolfgang Kubickis keinerlei nennenswertes Personal aufzuweisen hat. In einer Regierung jedoch hätte Lindner nicht nur davon reden können, "neu" zu "denken", sondern er hätte tatsächlich verantwortlich handeln müssen - mit Abstrichen beim eigenen Programm und in der ständigen Gefahr, von Angela Merkel an die Wand regiert zu werden wie seinerzeit Guido Westerwelle.
Der schnelle Weg in die Opposition wurde Lindner jedoch von der SPD vermasselt. Die historisch schwachen Sozialdemokraten konnten in ihren mickrigen 20,5 Prozent keinen Regierungsauftrag erkennen. Also musste Lindner ran - oder wenigstens so tun, als ob er es versuchen wolle.
Ein historisches Novum
Spontan oder geplant: Der Verhandlungsabbruch der FDP lässt Fragen offen. Will Lindner mit seiner Hardliner-Position in der Flüchtlingsfrage - einer Thematik, die bisher eher nicht zu den liberalen Kernangelegenheiten zählte - bei eventuellen Neuwahlen der AfD Wähler streitig machen? Oder hofft er darauf, dass die SPD einen neuen Wahlgang doch mehr fürchtet als eine neue GroKo?
Eines ist jedenfalls klar, und auch das ist ein historisches Novum, das wir dieser denkwürdigen Nacht verdanken: In der bald 70-jährigen Geschichte der FDP war diese stets zur Stelle, wenn sich eine Möglichkeit bot, mit am Tisch der Bundesregierung zu sitzen. Sie war verlässlich flexibel und deshalb stets regierungsfähig. Man konnte sie dafür verachten oder als Hüterin unserer Konsensdemokratie respektieren.
Christian Lindner jedoch hat die Liberalen auch in dieser Hinsicht gründlich umgekrempelt: Mit seiner Partei ist heute kein Staat mehr zu machen.
http://www.der-postillon.com/2017/11/fdp-prinzipien.html