Nur wenige Ärzte bundesweit wollen bisher das gesamte therapeutische Potenzial von Cannabis nutzen. Eine von ihnen ist die Berliner Psychiaterin Eva Milz.
Von Thorsten Harmsen
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Legales Kiffen auf Rezept – so sehen nicht wenige Kritiker den Sinn eines neuen Gesetzes, das der Bundestag im März dieses Jahres beschlossen hat. Erstmals dürfen Ärzte legal Cannabis an Patienten verschreiben. Die Blüten der Hanfpflanze können nachweislich schwere Krankheitssymptome lindern, darunter chronische Schmerzen, spastische Lähmungen, Übelkeit und Angst.
Doch die Pflanze kann mehr. Das meinen zumindest Mediziner, die sich der Erschließung des therapeutischen Potenzials von Cannabis verschrieben haben. Es sind nur wenige in Deutschland, vielleicht einige Dutzend. Sie meinen, dass es sich lohne, Cannabis als Therapieversuch bei verschiedenen Erkrankungen einzusetzen. Eine von ihnen ist Eva Milz.
Die Berliner Psychiaterin, 1973 in Euskirchen geboren, hat ihre Privatpraxis im ruhigen Südosten der Stadt, in Johannisthal. Sie weiß um die große Zurückhaltung vieler ihrer Kollegen beim Umgang mit Cannabis. Das Magazin Stern schrieb sogar vom „Cannabis-Flop“ und machte dafür die schwammige Wortwahl des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ verantwortlich, das am 10. März 2017 den Bundestag passierte. Demnach dürften Ärzte das Medizinal-Cannabis nur verschreiben, wenn Standardtherapien nicht helfen oder eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf“ besteht.
„Die meisten Ärzte reden sich heraus und denken auch, man müsse den Kopf unterm Arm tragen, ehe man Cannabis bekommt“, sagt Eva Milz. Doch die Angst vor dem Mittel sei unbegründet. Cannabis könne – verantwortungsvoll angewendet – bei vielen Erkrankungen helfen.
Als Arzneimittel wurde Cannabis bereit vor Jahrtausenden eingesetzt, darunter in China und dem antiken Ägypten. Diese Erfahrung sei in der modernen Medizin verloren gegangen, sagt Eva Milz. Kein Medizinstudent erfahre zum Beispiel, dass der Körper ein eigenes sogenanntes Endocannabinoid-System besitze. Dabei habe der Körper unzählige Rezeptoren, also Andockstellen, für die Stoffe aus der Hanfpflanze. Über diese würden andere Neurotransmitter gesteuert, also jene Botenstoffe, die für das Funktionieren der Nervenzellen sorgen. „Das gehört in jedes Lehrbuch“, sagt Eva Milz.
Sie selbst studierte Ende der 1990er-Jahre Medizin in Köln, Südafrika und Aachen. Sie promovierte zu einem Thema der Gehirnchirurgie. Nach einigen Jahren machte sie ihren Facharzt in Psychiatrie. Sie arbeitete an vielen Kliniken, zuletzt als Psychiaterin im Unfallkrankenhaus Berlin, wo sie oft sehr schwere Fälle betreute. Sie kennt das ganze Spektrum der Mittel, die in der modernen Medizin eingesetzt werden.
Auf Cannabis als Therapieoption wurde sie erstmals 2002 angesprochen. Sie arbeitete damals in der Patientenberatung für das Medizin-Portal eines Fachverlages. Multiple-Sklerose-Patienten, mir denen sie redete, hatten durch Zufall – beim Rauchen eines Joints – festgestellt, dass Cannabis ihnen hilft wie kein anderes Mittel. Viele fragten, ob es nicht auch legal zu bekommen sei. Bei der Arbeit für ein Drogen-Aufklärungsportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wiederum traf Eva Milz auf junge Menschen, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) litten und berichteten, dass es ihnen nach dem Cannabisentzug dauerhaft schlechter gehe.
ADHS-Patienten sind für Eva Milz ein Beispiel für den Umgang der Gesellschaft mit Cannabis – und für das Potenzial, das ihrer Meinung nach in der Hanfpflanze steckt. Als sie 2015 ihre Praxis gründete, arbeitete sie mit Franjo Grotenhermen zusammen, Arzt aus Rüthen in Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM).
Eva Milz begutachtete als Ärztin Krankengeschichten von Patienten aus dem ganzen Bundesgebiet und schickte sie an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm). Dieses erteilte zu jener Zeit noch Ausnahmegenehmigungen für Patienten, die Cannabis für die Therapie ihrer Krankheit nutzen durften. Bundesweit waren es etwa tausend – immerhin 20 Prozent davon ADHS-Patienten.
Eva Milz sieht es als wichtig an, genaues Wissen darüber zu sammeln, warum die Pflanze hilft und wie. Für einen Psychiaterkongress wertete sie die Fälle von 30 Patienten mit ADHS aus, die Medizinal-Cannabis nehmen durften. Sie studierte die Krankenakten und Biografien. „Es war keine Studie im strengen Sinn, sondern eine retrospektive Fallanalyse“, sagt sie.
ADHS-Patienten leiden unter dem, was Eva Milz „Gedankenchaos“ und „Reizfilterschwäche“ nennt. Die Betroffenen können sich nicht konzentrieren, nicht lernen und nicht arbeiten, ihre Impulse nicht kontrollieren. Sozial geraten sie oft ins Abseits, weil sie schlimme Ausraster haben. Doch nach dem Konsum von Cannabis – so zeigten die Fälle – konnten sie sich wieder konzentrieren, wurden lern- und arbeitsfähig. Viele bekamen auch ihre Impulsivität in den Griff.
Wie ist das zu erklären? Es liegt laut Eva Milz an der Vielfalt der Inhaltsstoffe der Hanfpflanze, vor allem der Cannabinoide. „Der Hauptplayer, den die meisten kennen, ist das THC“, sagt sie, ausgeschrieben Tetrahydrocannabinol. Es hat eine rauschhafte, psychoaktive Wirkung.
„Ziemlich unbekannt ist dagegen das Cannabidiol, CBD“, sagt Eva Milz. Es wirke wie ein Gegenspieler zum THC: angst- und krampflösend, entspannend und antientzündlich. Hinzu kämen noch viele weitere Cannabinoide, ätherische Öle und Aromastoffe. Die Bestandteile wirkten zusammen. Bei ADHS zum Beispiel scheine das THC hauptsächlich die Konzentration und die Fokussierung des Patienten zu fördern, sagt Eva Milz. Das CBD löse wahrscheinlich die Angst. Denn Impulsivität und Ausraster hätten viel mit Angst zu tun.
Verblüfft las die Psychiaterin in den Arztbriefen, dass es immer wieder die Eltern junger ADHS-Patienten waren, die fragten, ob man Cannabis nicht legalisieren könne. Jene, die am engsten an den Betroffenen dran waren, hatten gemerkt, dass herkömmliche Medikamente wie Methylphenidat – unter anderem als Ritalin bekannt – die Leidenden zwar ruhigstellten, aber zugleich ihre Kreativität und Lebendigkeit bremsten. Cannabis hatte sich als Alternative herumgesprochen.
Bei MS-Patienten wiederum wirke das Mittel gegen Schmerz und Muskelkrämpfe, weil ebenso beide Anteile – THC und CBD – enthalten seien, sagt Eva Milz.
„Für einen Patienten, der zum Beispiel eine Querschnittslähmung mit Spastik hat, ist das CBD ganz wichtig.“ „Cannabis ist nicht Cannabis“, fasst die Ärztin zusammen, „sondern wir haben hier ein sehr großes Spektrum.“ Wie vielfältig das Mittel ist, zeigt eine Liste, auf der 14 Sorten von Medizinal-Cannabisblüten mit ganz unterschiedlichen Dosierungen aufgeführt sind. Der Anteil von THC reicht von 1 bis 23,5 Prozent, der CBD-Anteil beträgt in vielen Mitteln unter 1 Prozent, kann aber auch bis zu 9 Prozent betragen.
Viele Menschen denken beim Begriff Cannabis zuerst an „Rauschgift“, an eine mögliche Sucht und deren Folgen. Auch diese seien von einem erfahrenen Arzt gut zu steuern, sagt Eva Milz. Sie erinnert an herkömmliche Medikamente wie Benzodiazepine, Schlaf- und Beruhigungsmittel, die schwerste Abhängigkeiten auslösen. Cannabis mit seinen vergleichsweise milden Entzugssymptomen könne sogar möglicherweise als Ersatz dienen.
Verständlich ist, dass das Verschreiben einer falscher Sorte oder Zusammensetzung negative Folgen haben kann. Der Umgang mit Cannabis sei eine sehr personalisierte Medizin, sagt Eva Milz. „Ich behandle mit Cannabis Patienten und nicht Erkrankungen.“ Dabei sei der Dialog sehr wichtig – wie übrigens bei den meisten Medikamenten.
Auf dieser Basis würde sie gern mit Kritikern und Zweiflern reden. „Ich warte seit zwei Jahren auf die kritischen Fragen von den Cannabis-Gegnern“, sagt sie, „doch ich bekomme sie nicht.“ Stattdessen kämen oft verzweifelte und hilfesuchende Patienten zu ihr, die zuvor von anderen Ärzten aus der Praxis geworfen worden seien – als vermeintlich Süchtige, die auf Umwegen an Stoff kommen wollten. Solche Menschen habe sie unter ihren Patienten noch nicht kennengelernt, sagt sie. ADHS-Patienten zum Beispiel seien sehr verantwortungsbewusst und setzten sich eher noch selbst unter Druck.
Eine offene Auseinandersetzung unter Medizinern darüber, wie man mit dem jetzt offiziell zugelassenen Mittel umgehen soll, findet offenbar nicht statt. Den Grund sieht die Ärztin vor allem in einer verbreiteten Unkenntnis. Sie würde zum Beispiel gerne offen darüber reden, wie groß das von Kritikern oft angeführte Risiko sei, dass Cannabis Psychosen und Schizophrenie auslösen könne. Sie leugnet diese Gefahr für bestimmte Menschen nicht. „Aber es lässt sich relativ leicht verhindern, indem man Patienten bestimmte Sorten oder Prozentanteile nicht verordnet“, sagt sie. „Das ist keine gefährliche Medizin. Aber man sollte schon Ahnung davon haben. Wer mir jedoch mit Psychose und Schizophrenie kommt und noch nie von CBD gehört hat, mit dem kann ich mich nicht unterhalten.“
In den nächsten Jahren will Eva Milz helfen, die Hanfpflanze weiter zu erforschen. Cannabis setze nicht an einer einzelnen Stelle an, wie andere Medikamente, sondern wirke systemischer, sagt sie. Es gehe um das Mischungsverhältnis, nicht um weitere Versuche, reine Stoffe zu isolieren. Um die Pflanze und die Wirkstoffe zu verstehen, müsse man sie sich komplett angucken. „Erst dann wird man wirklich herausfinden, was sie kann.“
Die Ärztin ist unter anderem mit Forschern einer Hochschule im Gespräch. Geplant sind Studien zum Einsatz von Cannabisblüten beim Tourette-Syndrom, bei ADHS und anderen Krankheiten, wo das Mittel bereits eingesetzt wird. „Ich würde gerne 30 bis 50 Präparate haben, die ich so einsetzen kann, wie es notwendig ist“, sagt sie. Einsatzgebiete sieht sie etwa bei entzündlichen Darmerkrankungen, Ängsten, Schlafstörungen, Neurodermitis, Migräne und anderen Beschwerden.
Aber bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg. Zunächst gibt es längst noch nicht so viele Varianten. Auch die lieferbaren Sorten sind oft noch nicht zu haben. „Ich mach’s wie bei den Börsenkursen“, sagt Eva Milz. „Ich rufe morgens bei der Apotheke an und frage: Was gibt’s?“ Vielleicht ist ja etwas reingekommen, das einem ihrer Patienten helfen könnte. Ein weiteres Problem sind die zum Teil hohen Kosten. Die Krankenkassen genehmigen nur etwa die Hälfte der Anträge. Doch eine Behandlung kann bis zu 3000 Euro im Monat kosten.
Für ein Gramm Cannabis verlangen die Apotheken 22 Euro. Eva Milz spricht von einem Zwei-Klassen-Medikament. Viele, die es dringend bräuchten, könnten es sich nicht leisten. Ihrer Meinung nach sollte es zwischen 8 und allerhöchstens 15 Euro kosten. Hinzu kommen die Definitionen. Die Krankenkassen in Bayern bezeichnen ADHS als schwerwiegende chronische Erkrankung, die AOK Hamburg ordnet sie nicht so ein.
Die Ärztin und andere Mediziner werden mit ihren Vorstellungen in den nächsten Jahren gewiss weiter auf Widerstand stoßen. Doch mit der Legalisierung von medizinischem Cannabis ist der erste Schritt getan hin zur Erschließung eines neuen Medikamentenfeldes. Vermutlich entsteht hier sogar ein neuer Milliardenmarkt.