In der Verhaltensbiologie gilt es als Todsünde, Tieren „menschliche“ Gefühle, Absichten und Denkweisen zu unterstellen. Jetzt fordert ein Biologe genau das.
WISSENSCHAFTLER BRICHT EIN BIOLOGIE-TABU (Autor Peter Carstens)

"Schlaue" Tiere haben Konjunktur. Biologen referieren im Fernsehen zur besten Sendezeit, in Bestsellern und in Magazinen vom komplexen Sozialverhalten und den unglaublichsten Anpassungsstrategien der Tierwelt.
Jetzt berichtet der Biologe Karsten Brensing in seinem neuen Buch „Das Mysterium der Tiere“ nicht nur von Krähen, die sich in Artgenossen hineindenken, sondern auch von altruistischen Ratten und Mäusen, die Mitleid mit Artgenossen empfinden. Manche Tiere sollen sogar ein Selbstbewusstsein und eine Persönlichkeit besitzen. Es scheint, als wären sie wie wir.
Sind sie auch!, gibt Brensing zu verstehen. „Wir müssen Tiere wieder vermenschlichen, auf wissenschaftlicher Grundlage“, sagt der Verhaltensbiologe, der über die Interaktion von Menschen und Delfinen promoviert hat.
Tiere sind wie wir – oder doch ganz anders?
Er bricht damit ein Tabu, das fast so alt ist wie die Biologie selbst. Tiere, so galt jahrhundertelang, haben weder Gefühle noch ein Denkvermögen. Geradezu berüchtigt ist die Ansicht des berühmten Philosophen René Descartes, Tiere seien im Unterschied zum Menschen nur ausgeklügelte Maschinen. Folgerichtig konnten Anatomen ohne jeden Skrupel Versuche an lebenden Hunden machen – und so die ersten Erkenntnisse über den menschlichen Blutkreislauf und das Nervensystem gewinnen.
Die Paradoxie dieser Erkenntnissuche kritisierte schon der Aufklärer Voltaire im 18. Jahrhundert: "Sie nageln ihn [einen Hund] auf einen Tisch und öffnen bei lebendigem Leibe seine Bauchhöhle, um Euch einen Blick auf die Innereien zu bieten. Ihr entdeckt in ihm die gleichen, zum Fühlen befähigenden Organe, die auch Ihr besitzt. Antwortet mir, Ihr Maschinentheoretiker, hat die Natur dieses Tier mit allen Quellen des Fühlens ausgestattet, damit es nicht zu fühlen vermag? Besitzt es Nerven, um ohne jede Erregung zu sein?“.
Voltaires Einwand wurde in der Wissenschaft weitgehend ignoriert – und wird es bis heute. Tierversuche – auch mit Hunden – und Massentierhaltung sind heute Standard.
Das Gefühlsleben der Tiere eine „Black Box“?
Die Behaviouristen erklärten das Innenleben nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere kurzerhand zu einer „Black Box“ – über die man nichts wissen könne. Und während die populärwissenschaftliche Literatur über die erstaunlichsten Strategien, Gedächtnisleistungen und Gefühle der Tiere überbordet, findet sich in der Wissenschaft dazu wenig. So behandelt, schreibt Brensing, nur eines von 59 Kapiteln eines 2000-seitigen Standardwerks der Biologie das Verhalten von Tieren. Erstaunliche Leistungen ihres Gehirns - kreative Problemlösungen, Werkzeuggebrauch, Selbstbewusstsein, abstraktes Denken - fehlen ganz.

Dabei zeigen Brensings Beispiele eindrucksvoll, dass es keinen Grund gibt, Tieren ein „Innenleben“ mit Schmerzen, Angst, Trauer und Freude abzusprechen. Im Gegenteil: Erstaunlich viele von ihnen haben ein differenziertes Sozialverhalten, lernen voneinander, manche bilden Jahrtausende alte Kulturen heraus und wissen um die Einzigartigkeit ihrer eigenen Person - etwa Delfine, Wale, Elefanten und Menschenaffen.
Wenn das alles stimmt, fragt der Biologe - dürfen wir dann noch so mit Tieren umgehen, wie wir es tun? Dürfen wir an Fischen Psychopharmaka testen und ihnen gleichzeitig ein Schmerzempfinden absprechen? Können wir feststellen, dass sechs Wochen alte Schweine klüger sind als 18 Monate alte Kinder - und sie in Übereinstimmung mit dem Gesetz lebenslang auf zwei Quadratmetern einsperren und schließlich zu töten?
Tiere brauchen Grundrechte
Brensings Antwort lautet: nein. Und weil das Tierschutzgesetz nicht verhindern kann, dass intelligente, leidensfähige und soziale Tiere wie Schweine auf zwei Quadratmetern eingesperrt und getötet werden, schlägt er vor, ihnen selbst Rechte zuzuerkennen - vergleichbar unseren Grundrechten, die von einem Anwalt eingeklagt werden könnten. Etwa das Recht auf Unversehrtheit und Freiheit.
In den USA macht der Anwalt Steven Wise vor, wie das gehen könnte: Er klagt im Namen von Schimpansen auf Freilassung aus privater "Haft" - weil er ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sieht. Auch wenn er mit dieser Argumentation juristisches Neuland betritt und die herkömmliche Rechtsprechung herausfordert, kann er schon jetzt Teilerfolge für sich verbuchen. Namhafte Rechtsgelehrte und Primatologen unterstützen sein Vorhaben.
Auch in Europa möchte Karsten Brensing Bewegung in die Tierrechtsdebatte bringen. Und gründete mit einem illustren Kreis von Uni-Professoren und -Professorinnen an seiner Seite den Verein Individual Rights Initiative (IRI). Ginge es nach ihm, hätten nicht nur Delfine in Delfinarien ein Recht auf Freiheit. Jedes der 27 Millionen Schweine in deutschen Mastställen hätte zukünftig Anspruch auf die Prüfung seiner Haftbedingungen - im Eilverfahren, versteht sich. Denn die Turbomast dauert ja nur wenige Monate. Auch die Frage, warum der Mandant sterben soll, müsste von Richtern geprüft - und gegen sein verbrieftes Recht auf Freiheit, Leben und Unversehrtheit abgewogen werden.
Utopisch? Sicher. Aber Utopien werfen immer ein interessantes Licht auf die Gegenwart, in der sie entstehen.
